Versorgungsverantwortung
In §3 Abs. 2 der Musterberufsordnung der Psychotherapeut*innen (PT) werden die vier ethischen Grundprinzipien von Beauchamp und Childress aufgegriffen: a) die Autonomie und Selbstbestimmung, b) die Schadensvermeidung, c) die Fürsorge und d) die soziale Gerechtigkeit. Die aktuelle Diskussion um Versorgungsfragen beschränkt sich häufig auf die Forderung nach mehr Ressourcen in Form von mehr PT und den Wegfall von Zulassungsbeschränkungen. Dabei vermissen wir die inhaltliche Auseinandersetzung unserer Berufsgruppe mit sozialer Gerechtigkeit als Ausdruck von Versorgungsverantwortung.
Soziale Gerechtigkeit und Versorgungsverantwortung
beinhalten Priorisierung, Begrenzung und Nachhaltigkeit.
Priorisierung bedeutet, qualitative Behandlungsentscheidungen einerseits
von der Schwere und andererseits von der Aktualität psychischer
Erkrankung abhängig zu machen. Begrenzung bedeutet, quantitative
Behandlungsentscheidungen von der Schwere der Erkrankung und der
Prognose abhängig zu machen. Nachhaltigkeit bedeutet,
Behandlungsentscheidungen in einen langfristigen Kontext zu sehen.
Sozialraumorientierung
Mit der Niederlassung geht die Verpflichtung zur Versorgung der Versicherten
eines Sozialraums einher. Können wir Niedergelassene von uns behaupten, dass
die Entscheidung zur Behandlung von Patient*innen (PAT) gerecht ist, dass
Menschen mit dem gleichem psychischem Leidensdruck in unserem Sozialraum
die gleichen Zugangsmöglichkeiten haben? Wir müssen diese Frage leider stellen.
Das Selbstverständnis vieler PT und ihr Mitgefühl zur Fürsorge für ihre PAT scheint eine notwendige Gewichtung des Prinzips der sozialen Gerechtigkeit zu behindern, wenn die Fürsorge für Einzelne die Versorgung anderer schwerer Erkrankter einschränkt. Wir wünschen einen angemessenen Raum in der fachlichen und berufspolitischen Diskussion über diese Frage. Je mehr wir uns als Berufsgruppe dieser Diskussion verweigern, umso mehr laufen wir Gefahr, dass andere den Diskurs bestimmen werden, z.B. der Gesetzgeber, der dies bereits in Form ständiger Ausweitung von bürokratischen Anforderungen tut. Wir brauchen eine im professionellen Selbstverständnis verortete Versorgungsverantwortung, die dem Prinzip der Gerechtigkeit genügt.
Mehr Ressourcen bedeuten nicht bessere Versorgung.
Wenn trotz umfangreicher Maßnahmen der Vergangenheit wie der Reform der Bedarfsplanungsrichtlinie sowie der Ressourcenausweitung durch die massive Zunahme an Zulassungen mit halbem Versorgungsauftrag weiterhin Versorgungsdefizite bestehen, dann macht sich die Berufsgruppe gegenüber anderen Akteuren unglaubwürdig. Wir wünschen uns daher eine intensive Diskussion über (un-)gerechte Verwendung der vorhandenen Ressourcen.
Wie wird soziale Gerechtigkeit in der Versorgungsverantwortung gegenwärtig umgesetzt?
Beobachtungen von Rolf Wachendorf
Die vorgestellten Auswertungen beruhen auf landesweiten Abrechnungsdaten und Daten der Terminservicestelle (TSS) der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg. Diese Daten wurden erhoben, um rechtzeitig Versorgungsentwicklungen festzustellen, welche für die künftige Sicherstellung und speziell für die langfristige Existenzsicherung der Niedergelassenen maßgeblich werden könnten. Alle berichteten Daten fanden sich über Jahre hinweg in vergleichbarer Weise.
Versorgungsauftrag und Versorgungsrealität
Trotz massiver Zunahme der Praxen bestehen laut BPtK Wartezeiten. Ein Grund
könnte sein, dass weniger als die Hälfte aller Niedergelassenen den gesetzlichen
Mindestversorgungsauftrag für ihre Zulassung erfüllen. Gleichzeitig erschwert
die Fragmentierung der Versorgung durch Praxen mit halbem Versorgungsauftrag
die Kooperation mit ärztlichen Mitbehandler*innen.
Kein Abbau von Zugangsbarrieren
Die Sprechstunde wurde eingeführt, um zeitnah Behandlungsindikationen feststellen
und Beratungsbedarfe von Krankenbehandlung zu trennen. Doch nur 50%-57% der
Praxen mit vollem und 65%-70% mit halben Versorgungsauftrag erbringen die
geforderte Sprechstundenmenge. Seit Einführung der Sprechstunde zeigt sich
keine Fallzahlerhöhung pro Kopf, die einzelnen PT sehen also nicht mehr PAT.
Die Flexibilisierung des Angebotes und ein niederschwelliger Zugang zur Psychotherapie
finden demnach nicht statt.
Versorgungsdichte
Die TSS wurde zur Reduzierung von Wartezeiten eingeführt. Dortige Anmeldungen
sind ein aussagekräftiger Indikator für Wartezeiten bei dringlicher Psychotherapie
bzw. für ungedeckten Bedarf. Termine zur Sprechstunde und Akutbehandlung
werden von der TSS vor allem in Regionen mit hoher PT-Dichte vermittelt.
Daraus lasst sich ableiten, dass lange Wartezeiten und dringliche Akutbehandlungen
weniger im ländlichen Raum bestehen, sondern vielmehr in bedarfsplanerisch
hochversorgten Gebieten. Je höher die PT-Dichte in einer Region ist, umso höher war die
Nachfrage nach Terminvermittlung durch die TSS. In Regionen mit geringer Dichte war kein Versorgungsstau erkennbar. Alle
angefragten Termine wurden vermittelt. Je höher die Dichte, je höher die
abgerechnete Morbidität im Verhältnis zur Bevölkerungsanzahl. Dies deutet
auf eine Absenkung der Krankheitsdefinition in bedarfsplanerisch überversorgten
Gebieten hin und damit auf eine angebotsinduzierte Nachfrage.
Gruppentherapie
86% der PT mit Abrechnungsgenehmigung für Gruppentherapie erbringen diese
nicht. Damit wird ein wichtiger Baustein zur Verbesserung der Versorgung
nicht hinreichend genutzt.
Frequenz und Dauer von Psychotherapie
Die Wirksamkeit einzelner Therapiesitzungen nimmt mit zunehmender Behandlungsdauer
ab. Nach den ersten Therapieerfolgen ist somit eine niederfrequente Behandlung
angemessen.
Interpretation
Die beschriebenen Fehlentwicklungen zeigen Versorgungsdefizite als Folge
der Art und Weise, wie Psychotherapie durchgeführt wird. Diese werden die
Existenz von PT nachhaltig beeinträchtigen:
Ohne hinreichende Nutzung der Sprechstunde findet keine adäquate Steuerung der Versorgung statt. Es fehlt an Prozessen der Priorisierung z.B. in der Versorgung von psychisch schwer Erkrankten.
In Regionen, in denen ein PT auf 800-900 Einwohner kommt, wäre rechnerisch in 10 Jahren die gesamte Bevölkerung psychotherapeutische behandelt. Eine nachhaltige Existenz der Niedergelassenen kann nur gesichert werden, wenn einzelne PAT wiederholt behandelt werden oder es zu einer Absenkung des Krankheitskriteriums kommt. Wenn in solchen Regionen schwer psychisch kranke PAT lange warten müssen, verliert die Berufsgruppe an Glaubwürdigkeit.
Wie wird soziale Gerechtigkeit in der Versorgungsverantwortung gegenwärtig umgesetzt?
Beobachtungen von Jan Glasenapp aus der Begutachtung von VT-Anträgen
Diagnosestellung
Häufig wird die Diagnosestellung nicht durch standardisierte Verfahren abgesichert.
Daher kann die Schwere der Erkrankung unterschätzt werden, was sich in eher
milden oder unklaren Diagnosen (z.B. F41.2) widerspiegelt. Sehr häufig werden
Langzeittherapien bei F32 oder F33 gestellt, andere Diagnosen bleiben unberücksichtigt
(z.B. F42, F45 etc.).
Diagnose und Behandlungsumfang
Der beantragte Umfang ist angesichts der gestellten Diagnose manchmal
unangemessen, beispielsweise wenn bei F32.0 oder F43.2 60 Einheiten geplant
werden.
Überschreitung des Höchstkontingents
Mit der Begründung „weiterer Stabilisierung“ entsteht zunehmend der
Eindruck, dass die Behandlung mehr zu einer Lebensbegleitung in schwierigen
Zeiten geworden ist, als der Behandlung von Krankheiten dient. So wird oftmals
nicht deutlich, wie eine nachhaltige Verselbständigung der PAT erreicht werden
soll, oder wie eine integrierte Behandlung mit anderen Fachgruppen erfolgen
kann.
Vorbehandlungen
Mittlerweile überwiegt die Zahl der gutachtenpflichtigen Anträge für PAT,
die nicht ihre erste Psychotherapie machen. Dabei überrascht es, wie wenig
in den Berichten auf die Vorbehandlungen eingegangen wird und letztere zur
Prognose kaum reflektiert wird.
Prognoseeinschätzung
Vereinzelt
werden Gründe, die einer günstigen Prognose entgegen stehen, wenig reflektiert.
So fehlt oftmals eine Suchtanamnese bei Subszanzmißbrauch. Oder es werden
PAT behandelt, die sich in laufenden Rentenantragsverfahren befinden, ohne
dass die die Störung aufrechterhaltenden Bedingungen reflektiert werden.
Rezidivprophylaxe
Oft fehlen Angaben zur Rezidivprophylaxe oder es wird ohne Begründung angegeben,
dass diese noch nicht absehbar sei – auch bei rezidivierenden Störungen und
Vorbehandlungen wo diese. insbesondere von schwer und chronisch psychisch
Kranken sinnvoll ist.
Patienten mit Intelligenzminderung und anderer Gruppen
sind leider immer noch die absolute Ausnahme.
Interpretation
In Gesprächen zeigt sich häufig, dass die Psychotherapie-Richtlinie, zumindest
in der aktuellen Version, nicht bekannt ist. Auch wenn die meisten Anträge
Ausdruck einer fundierten und engagierten Arbeit sind, zeigen sich Probleme,
die Rückschlüsse auf grundsätzliche Defizite der Versorgung zulassen. Zusammenfassend
ist unzureichend: die Absicherung der Diagnose, die Berücksichtigung der
Vorgeschichte mit den erfolgten Behandlungen, eine kritische Reflexion der
Prognose und des angemessenen Behandlungsumfangs sowie eine Berücksichtigung
der Rezidivprophylaxe und damit der Planung der Behandlung in die Zukunft.
Was ist zu tun? Ausblick
Klare Trennung von Sozialarbeit, Beratung und
Krankenbehandlung.
Wenn Lebensbegleitung einzelner dazu führt, dass die
Behandlung von Krankheiten anderer verhindert wird, dann stimmt
die Gewichtung der sozialen Gerechtigkeit nicht mehr.
Qualitätssicherung
von Behandlungsentscheidungen zu Priorisierung und Begrenzung
in Form von Intervision sollte standardisierter Teil der Behandlungsdokumentation
werden. Ab einem zu definierenden Behandlungsumfang sollte ein
Zweitmeinungsverfahren obligat werden, in dem das bisherige Gutachtenverfahren
zukünftig aufgeht.
Standardisierte Diagnostik
wird obligat, um die Vergleichbarkeit des psychischen
Leidens innerhalb des Sozialraums und zwischen verschiedenen
Sozialräumen zu sichern. Damit kann in Regionen mit hoher PT-Dichte
die Absenkung des Krankheitsbegriffs verhindert werden.
Sprechstunde zur Priorisierung nutzen
um die Patienten zu begrenzen, die keine
behandlungsbedürftige psychische Erkrankung oder eine
ungünstige Prognose haben.
Die Behandlungs-Vergangenheit systematisch erfassen
indem Befundberichte erstellt und bei Bedarf
weitergegeben werden. Nur so kann diese in der Prognose
reflektiert werden.
Die Behandlungs-Zukunft systematisch unter Einbezug
niederfrequenter Rezidivprophylaxe und
Intervallbehandlung planen.
„Nach der Psychotherapie ist vor der Psychotherapie“
wird für zunehmend viele Menschen zur Realität. Bei gegebener
Indikation, z.B. rezidivierenden Erkrankungen, ist die Rezidivprophylaxe
zu erweitern und zum Standard der Versorgung zu werden.
Kooperative und vernetzte Praxisstrukturen
mit einer gemeinsamen Erreichbarkeit (Telefonnummer)
und gemeinsamer Anmeldung (Website). Die Praxis-Netze sollten
in der Lage sein, Gruppentherapie als Standardbehandlung anzubieten.
Berufsrechtliche Berücksichtigung von
Versorgungsverantwortung
indem die Kammern die Selbstregulation unserer Berufsgruppe
und ihre Verantwortungsübernahme, z.B. über KreisPTschaften,
unterstützen. Dazu gehört die Beendigung der Forderung nach erweiterter
Bedarfsplanung. Erst wenn wir als Berufsgruppe unsere Hausaufgaben
gemacht haben, wäre zu prüfen, ob und wo Neuzulassungen notwendig
sind. Dem Bedarf der Bevölkerung nach Beratung und Begleitung
in Belastungssituationen muss durch Forderung nach Ausbau der
Beratungsstellen begegnet werden – nicht nach Forderungen zum
Ausbau der Krankenbehandlung.
Sozialrechtliche Berücksichtigung von
Versorgungsverantwortung.
Über die Umsetzung der Richtlinienbestimmungen hinaus
sollte der Behandlungsbedarf des Kranken den Behandlungsumfang
bestimmen, nicht das angewendete Verfahren.
Über Selektivverträge
sollte der Aufbau versorgungsorientierter Strukturen
erfolgen statt einer kleinräumigen, bundesweiten Bedarfsplanung.
Kassen können so regionale Besonderheiten berücksichtigen.
Zum Abschluss
Stellen
Sie kritisch Fragen an Verbands- und Kammervertreter*innen und
bringen Sie Ihre Ideen ein, damit Handlungsdruck entsteht und
die Versorgungsverantwortung unserer Berufsgruppe in den Fokus
gestellt wird. Vielen Dank!
Die wieder gegebenen Meinungsäußerungen und/oder Tatsachenbehauptungen liegen in der alleinigen Verantwortung der Autoren.